Offener Brief an Friedrich Merz

Hallo Friedrich,

Ich habe eben einen Artikel (https://www.spiegel.de/politik/deutschland/cdu-chef-friedrich-merz-kritik-an-der-fdp-und-appell-zur-arbeitsmoral-a-0f166cf9-1613-4ca2-aad3-cf1aead36390?sara_ref=re-xx-cp-sh) über dich gelesen und muss sagen, ein wenig hast du mich überrascht. Fast sogar positiv, da deine Aussagen über Christian Lindner und die FDP tatsächlich auch größtenteils meiner Wahrnehmung entsprechen.

Leider jedoch klingt der Rest, den du so vo  dir gegeben hast, wie Hohn in meinen Ohren und macht dich durch deine mal wieder zur Schau gestellte neoliberale Einstellung nach wie vor unwählbar.

Ich weiß wirklich nicht, ob du dir den Blödsinn selber glaubst, oder ob du einfach weiter am Märchen des Kapitalismus festhalten willst, weil du und deinesgleichen so wunderbar davon profitieren.

Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass du wirklich keinen blassen Schimmer hast  wie die Lebensrealität der meisten arbeitenden Menschen in Deutschland aussieht. Und vor allem, welche Aufstiegschancen der Kapitalismus für sie bietet - oder vielmehr nicht bietet.

Also versuche ich jetzt mal, dir das zu erklären. Gerne an meiner eigenen Biografie:
Ich bin 1980 in einer klassischen Arbeiterfamilie geboren, mein Vater arbeitete bei Philips in der Industrie, meine Mutter als Erzieherin. Wir waren nicht arm, aber sicher auch nicht reich.


Ich machte mein Abitur, danach Zivildienst und schloss daran eine Berufsausbildung zum Tischler an. Blöderweise war zu der Zeit, als ich mit der Ausbildung fertig war, gerade die Agenda 2010 in Kraft (von der SPD verbrochen, ich weiß; aber ihr findet Hartz IV bzw das Bürgergeld, wie es jetzt heißt, ja noch zu großzügig!). Ein Teil der Agenda 2010 war, dass auf einmal überall Zeitarbeitsfirmen  entstanden sind und es kaum noch reguläre Jobs in den eigentlichen Betrieben gab. Einen Mindestlohn gab es ebenfalls nicht, weshalb ich offiziell 40 Stunden in der Woche arbeiten musste und dafür nur 850€ erhielt. In Wahrheit habe ich aber ganz oft mehr als 40 Stunden gearbeitet, ohne die Zeit vergütet zu bekommen - alles in der Hoffnung auf einen Festvertrag, der mir immer in Aussicht gestellt wurde, aber nie kam. Klar deckt sich das nicht mit dem Arbeitsrecht. Aber als ich mich beim Jobcenter über die Arbeitsbedingungen beschwerte, drohte man mir mit einer Sperre der Leistungen, wenn ich meinen Job verlieren sollte. Schließlich würde es meine Jobchancen ja mindern, wenn ich auf meine Rechte vestehen würde, was laut Sachbearbeiterin Sanktionen rechtfertigen würde (gegen mich, nicht gegen die Firmen, welche das Recht brachen!). Mein Sohn war gerade geboren. Du kannst ja angeblich rechnen, also kannst du dir sicher ausrechnen, dass man damit keine Familie ernähren kann. Das Ergebnis war also: mit Abitur, Berufsausbildung und Vollzeitjob trotzdem Hartz IV und beim Jobcenter wurde mir erklärt, dass das Arbeitsrecht für mich praktisch nicht gilt.
Nach ein paar Jahren entkam ich endlich der sklavenähnlichen Zeitarbeit und wurde von einem Schaumgummibetrieb übernommen. Dort bekam ich immerhin 1200€ netto.
Kurz darauf haben aber blöderweise ein paar Leute aus purer Gier und Menschenverachtung eine schwere Krise ausgelöst. Ich hoffe, du erinnerst dich noch an die Bankenkrise? Die Leute, die diese Scheiße verbrochen haben, sind sicher heute in der Mehrzahl reicher, als damals.
Naja, ich verlor damals blöderweise meinen Job. Dumm gelaufen... aber das lag sicher nicht daran, dass ich faul war oder unfähig. Laut Vorstand war es einfach am billigsten, mich zu entlassen. Mein Abteilungsleiter hatte sich eigentlich für mich ausgesprochen, weil ich zuverlässig war und verdammt gute Arbeit geleistet hatte, aber was solls? Nur fällt es mir seitdem immer schwerer, das Märchen von dir und deinen Kapitalistenfreunden zu glauben, dass sich Arbeit lohnt. Und das hat sicher nichts damit zu tun, dass das Bürgergeld zu hoch ist. Sondern vielmehr damit, dass ich mir den Ar... aufreiße, damit sich andere die Taschen voll machen!

Aber weiter: nach ein paar Monaten fand ich tatsächlich einen neuen Job als Monteur für Küchen. Diesmal bekam ich 1450€ netto. Offiziell wieder für 40 Stunden die Woche, aber die Realität sah anders aus. Feierabend war, wenn die Küche fertig war. Dabei spielte die Größe der Küche fast nie eine Rolle. Ich arbeitete fast immer 12 Stunden am Tag, manchmal auch noch mehr. Ich war sogar auch bis Amsterdam, Brüssel, Paris unterwegs. Weil ich meinen Job gut und gerne gemacht habe. Aber Überstunden wurden natürlich wieder nicht vergütet.

Irgendwann hatte ich die Schnauze voll von dieser Ausbeutung und machte mich als Monteur selbständig. Frei war ich jedoch immer noch nicht, wie ich bald merken durfte. Ich war natürlich noch immer von meinen Auftraggebern abhängig. Mehr oder weniger große Möbelhäuser und -ketten, die ihre Machtposition schamlos ausnutzten: sie änderten meine Rechnungen, wie es ihnen passte. Aber natürlich jedesmal nur um einige 100 bis 1000€. Und immer mit irgendwelchen fadenscheinigen Begründungen. Aber natürlich immer so, dass sich ein Prozess nicht lohnt. Wenn man sich beschwerte, bekam man weniger lukrative Aufträge oder wartete mehrere Monate auf sein Geld.
Zudem sparten sie Geld, weil ich mich selbst privat kranken- und rentenversichern musste. Dieses Geld fehlte dann wiederum in den gesetzlichen Sozialversicherungen.
Und wenn ich krank war oder im Urlaub, kostete ich meine Auftragsgeber natürlich auch nichts.
Subunternehmer lohnen sich also auch nur für die, die ohnehin schon genug haben.
Mittlerweile wieder in einer Tischlerei angestellt arbeite ich immerhin für 2000€ netto und bekomme Mehrarbeit zumindest mit Freizeit vergütet.

Aber dass sich Leistung für mich irgendwann auszahlt, sehe ich jetzt wirklich nicht. Obwohl ich meinen Job liebe und er mich wirklich erfüllt. Ich möchte gar keinen anderen Job machen.
Nur glaube nicht mehr an euer Märchen vom Kapitalismus. Davon, dass sich Leistung lohnt, jeder aufsteigen kann, wenn er sich nur kräftig ins Zeug legt. Oder an den Trickle-Down-Effect. Ich glaube euch diesen neoliberalen Blödsinn nicht mehr!

Und so, wie mir, geht es sicher vielen. Zum Beispiel den 30.000 Mitarbeiter*innen bei VW, die jetzt ihren Job verlieren sollen, während Herr Blume knapp 10 Millionen  im Jahr verdient. Wieso zum Geier verdient dieser Mann in einem Jahr mehr als das sechsfache von dem, was ich in meinem ganzen Leben verdienen werde?! Ich habe eine Vermutung, für wen sich arbeiten (lassen) lohnt...
Und währenddessen wird bezahlbarer Wohnraum immer knapper. Lebensmittel immer teurer. Die Infrastruktur in Deutschland zerbröselt seit Jahrzehnten (nicht erst, seit die Grünen in der Regierung sitzen!). Die Reichen und die Unternehmen zahlen immer weniger Steuern und dürfen sich privat versichern - tragen also ÜBERHAUPT NICHTS mehr zum Allgemeinwohl bei. Was vermutlich der WIRKLICHE GRUND ist, warum meine Rente später nicht reichen wird, obwohl ich 45 Jahre gearbeitet haben werde. Und so weiter - ich könnte noch jede Menge aufzählen.

Bevor du und deinesgleichen jetzt wieder das schöne Wort "Neiddebatte" bemühen wollt: nein, das ist kein Neid, sondern eine Frage der sozialen Gerechtigkeit!

Und genau deshalb empfinde ich deine Worte als Hohn, ja sogar als Beleidigung. Denn sie unterstellen mir Faulheit, obwohl ich mein Leben lang gearbeitet habe. Ich habe schon mit 14 Jahren in den Schulferien verschiedene Jobs gehabt. Und ich war so gut wie nie arbeitslos. Die längste Zeit waren 3 Monate am Stück. Während der Bankenkrise. Die ganz sicher nicht durch mich verschuldet wurde!
Und ich habe viele - sogar meist unbezahlte - Überstunden geleistet, wie du ja jetzt forderst.

Erkläre mir doch bitte, wo genau sich das FÜR MICH gelohnt hat. Richtig: hat es nicht!
Und trotzdem verlangst du von mir, ich solle mehr arbeiten?!

Das zeigt mir ganz deutlich, dass du entweder von der Lebensrealität der Menschen im Land keine Ahnung hast, oder sie dir egal ist!

Was auch immer davon auf dich zutrifft, ist egal. Du bist auf jeden Fall nicht geeignet, der nächste Kanzler zu sein. Deine Vorschläge dienen nur den Reichen und den Konzernen - sie sind aber weder dazu geeignet, Deutschland zu modernisieren, den Klimawandel zu bekämpfen, die soziale Schieflage zu bekämpfen. Und die AfD "halbieren" deine Vorschläge auch nicht!

Ihr alle - ihr Spitzenpolitiker von SPD, CDU/CSU, FDP, Grüne, Linke - solltet endlich begreifen, dass der Rechtsruck ein Symptom der sozialen Schieflage in Deutschland ist.

Ihr wollt die Demokratie retten? Dann tut was gegen die Armut im Land! Nehmt den Leuten die Angst vor dem sozialen Abstieg.
Das wird euch aber nicht gelingen, indem ihr die Parolen der Nazis mitbrüllt. Das gelingt euch auch nicht, wenn ihr weiter bei den Ärmsten kürzt. Oder wenn ihr die Reichen noch mehr entlastet.

Sondern indem ihr in die Infrastruktur investiert, in die Zukunft der Wirtschaft (Dazu gehört eindeutig NICHT der Verbrennungsmotor!), in Bildung und vor allem in soziale Gerechtigkeit! Und indem ihr den Klimawandel endlich als ernste Krise anerkennt und entsprechend handelt!

Natürlich kostet das Geld. Aber dann holt es euch einfach bei denen, die mehr als genug davon haben. Bisher haben sie vom Kapitalismus nur profitiert, jetzt müssen sie Verantwortung übernehmen und für die Schäden des Kapitalismus aufkommen!
Besteuert große Vermögen und Erbschaften, lasst die Reichen in die gesetzlichen Versicherungen einzahlen, sorgt für eine gerechte Entlohnung der Arbeitnehmer*innen! So nehmt ihr die Bevölkerung mit.

Packt endlich die wirklichen Probleme an, verdammt!!!
Dafür bin ich sogar bereit, mehr zu arbeiten. Aber nicht, damit sich die Reichen noch höhere Gehälter und Boni zahlen, Dividenden ausschütten, in Aktien investieren oder Bitcoins.

Dann verschwindet die AfD sicher auch wieder in der Bedeutungslosigkeit.

Es grüßt

Der Pippo